Jüdisch-Palästinensische Dialoggruppe

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Abed Schokrys jüngster Bericht aus Gaza

Sehr geehrte Damen und Herren

Liebe Freundinnen und liebe Freunde,

Gaza am 24. November 2018

Die Zeit vom 1. bis 10. November war ganz verrückt.

Zuerst kamen die Millionen aus Katar , denn am Donnerstag hatte Israel dem Gesandten aus Katar erlaubt, Koffer mit Bargeld in Höhe von 15 Millionen Dollar (13 Millionen Euro) in den Gazastreifen zu bringen. So bekamen die Beamten im zivilen Bereich zum ersten Mal seit Jahren ein ganzes Monatsgehalt ausgezahlt. Dann ist die Stromversorgung deutlich besser geworden, ebenfalls Dank der Spende aus Katar. Wir haben nun täglich acht Stunden Strom, dann acht Stunden keinen Strom und so geht es weiter. Es gibt sehr viele Witze darüber in den “Social Media”. Ich hatte vor, den einen oder anderen Witz zu übersetzen, ABER die Dynamik des Nahen Osten erlaubt es nicht Witze zu machen. Denn Gaza war/ist wieder unter Beschuss.

Am Samstag, den 10. November begannen an fast allen Universitäten die Zwischenprüfungen im Semester. Am Sonntag wie auch am Montag gingen diese Prüfungen weiter, obwohl sich unsere Situation dramatisch verschlechterte und von einer normalen Prüfungssituation nicht mehr die Rede sein konnte.

Am Sonntag, den 11. November 2018 wurde die Geheimdienstaktion einer israelischen Spezialeinheit im Süden des Gazastreifens, in Khan-Younes entlarvt. Vielleicht haben Sie davon gehört, obwohl vor allem in den deutschen Medien dieser Auslöser der darauf folgenden Eskalation weggelassen wurde, um allein die Hamas zu beschuldigen.

Der israelische Geheimdienst fuhr, nicht nur getarnt in einem Privatfahrzeug, sondern wie man hört auch verkleidet als Frauen in den Gazastreifen (mit Schleier). Ob gezielte Tötungen oder etwas anderes der Grund war, in den Gazastreifen heimlich einzudringen, ist nicht bekannt. Vielleicht handelte es sich um eine vom israelischen Premierminister nicht autorisierte Aktion von Liberman, während Netanyahu in Paris an der Gedenkfeier zum Ende des Ersten Weltkriegs teilnahm. Vielleicht war es auch eine Routineaktion gezielter Tötungen, die nicht unüblich ist, soviel man weiß. Aber das sind nur Erklärungsversuche, da es mit „normalen“ Menschenverstand nicht zu verstehen ist, dass nach vorsichtigen Schritten der Entspannung, unterstützt von Ägypten, diese israelische Provokation erfolgte. Wollte man absichtlich die Entspannung durchkreuzen? Wollte man die aufkeimende Hoffnung der Palästinenser auf ein etwas besseres Leben gleich wieder zerstören? Ich weiß es nicht.

Als palästinensische Polizisten und Sicherheitsoffiziere das verdächtigte Fahrzeug entdeckten, kam es zum Schusswechsel. Dabei wurden sieben Palästinenser und ein israelischer Geheimdienstoffizier getötet. Um den anderen israelischen Soldaten der Spezialeinheit, die sich in dem Fahrzeug befanden, den Rückzug zu ermöglichen, setzte Israel Hubschrauber und Kampfjets ein, die die Gegend beschossen. Der Hubschrauberlandete sogar auf palästinensischem Boden in Gaza und konnte so den getöteten israelischen Agenten und die anderen Mitglieder der Gruppe nach Hause transportieren.Das verwendete Fahrzeug wurde anschließend mit israelischen Raketen total vernichtet, um keine Spuren zu hinterlassen.

Wie zu erwarten, kam es zu einer Reaktion seitens der Palästinenser. Aus Gaza wurden Raketen abgeschossen. Wie auch zu erwarten, kam es zu einer Reaktion aus Israel. Kampfbomber legten Häuser in Gaza in Schutt und Asche, viele Häuser wurden beschädigt. Es gab Tote und Verletzte. Wie immer waren es nahezu ausschließlich Palästinenser. Tragisch ist, dass auf der israelischen Seite ein palästinensischer Arbeiter aus Hebron von einer Rakete aus Gaza getötet wurde. Er war der einzige Tote in dieser Auseinandersetzung in Israel, soweit ich weiß. Verletzte Israelis gab es auch. Wie ich festgestellt habe, hat man in manchen deutschen Medien diesen Palästinenser, der in Israel getötet wurde, zum Israeli „gemacht“, denn ein toter Israeli bekommt mehr Anteilnahme als viele tote Palästinenser. LEIDER!!!

Am frühen Abend des 12. November traf eine Rakete aus Gaza einen Bus auf der israelischen Seite, aus dem die Soldaten, die sich darin befunden hatten, alle bereits ausgestiegen waren. Wahrscheinlich hätte man den voll beladenen Bus auch treffen können, aber das geschah nicht. Ob es Absicht war oder nicht, weiß man nicht genau. Jedenfalls eskalierte daraufhin die Gesamtsituation und wir dachten, der Krieg sei nun ausgebrochen. Einige Häuser direkt in der Nähe unserer Wohnung wurden getroffen. Das Mehrfamilienhaus, in dem wir wohnen, bebte wieder und wieder. Meine älteste Tochter, meine Frau und ich blieben die ganze Nacht von Montagabend auf Dienstag wach.

Unsere drei jüngeren Kinder wurden immer wieder aus dem Schlaf gerissen, wenn in unmittelbarer Nähe die sehr lauten Explosionsgeräusche zu hören waren. Unsere jüngste Tochter, sie ist sechs Jahre alt, versuchte ich damit zu beruhigen, dass es sich nur um ein Hochzeitsfeuerwerk handelt. Hat sie mir das geglaubt? Ich weiß es nicht. Glücklicherweise, kam dann am Abend des 13. November die Meldung, dass eine Waffenruhe “Hudna” durch Vermittlung von Ägypten, und auch der UN, Norwegen und vielleicht noch anderen ausgehandelt worden sei.

Es sei an dieser Stelle daraufhingewiesen, dass es bei den israelischen Luftangriffen relativ wenige Tote und Verletzte gab. Das kam auch zustande, weil die israelische Armee die Bewohner per Anruf vor dem Raketenbeschuss warnte. D.h. sie feuerten zuerst Warnraketen ab. Die Bewohner hatten dann Sekunden oder ganz wenige Minuten, um das Gebäude fluchtartig zu verlassen. Dann wird mit einer F-16 Rakete bombardiert und alles zerstört. So wurde ein Haus, in dem sich der Al-Aqsa Sender befand, dem Erdboden gleich gemacht. Nach israelischen Angaben wurden im Gazastreifen mehr als 100 angeblich militärische Ziele angegriffen. In Wirklichkeit handelte es sich keineswegs immer um militärische Ziele. Das Elternhaus einer Bekannten von mir, in dem mehrere Familien wohnten, wurde zerstört. Alle Bewohner sind politisch nicht aktiv und gehören keiner Organisation an. Das Haus wurde trotzdem zerstört. Nichts konnten sie mitnehmen. In dem Haus wohnte auch eine Studentin, deren Masterarbeit ich betreue. Ein anderes Haus liegt in der Nähe des Hauses einer Kollegin meiner Frau.

Sie haben auch ihr Haus verlassen müssen, da es an ein Haus angrenzt, das die Israelis ins Visier genommen hatten. So musste die ganze Familie ihr Haus verlassen. Zum Glück konnten sie in ihr Haus zurückkehren. Nur Fenster hatte das Haus keine mehr. Ich weiß nicht, ob die Menschen in Gaza den Israelis dankbar sein sollen, weil ihnen die Zerstörung ihres Hauses „freundlicherweise“ angekündigt wird. Denken Sie, die Sie das jetzt lesen, vielleicht auch „na, dann ist es ja nicht so schlimm“? Abgesehen davon, dass den Menschen ihre Lebensgrundlage genommen wird, wenn ihre Wohnung, ihr Haus zerstört wird, uns allen wird mit diesen Bombardierungen ein würdiges Leben genommen. Ob wir nun getroffen werden oder nicht.

Am 14. November, dem Tag nach der Waffenruhe, ging dann das Leben weiter – irgendwie. Die Prüfungen wurden auf Samstag und Sonntag verschoben. Ich möchte hier nicht aufrechnen, wie viele Menschen wurden getötet? Und wie viele wurden obdachlos? Und wie viele genau wurden verletzt? Eine wichtigere Frage lautet meiner Meinung nach, was kommt jetzt? Was wird jetzt geschehen?

Der amtierende israelische Verteidigungsminister Liberman, ich nenne ihn Kriegsminister, hat das Handtuch geworfen. Was wir in den israelischen Medien lesen, erschwert uns das ohnehin sehr schwere Leben weiter. Fast alle Minister wollen UNS eine „Lektion“ erteilen, einige wollen sogar den Gazastreifen wieder besetzen und manche sind dafür, dass die israelische Armee ihre Liquidierungsstrategie gegen palästinensischen Führer wieder aufnimmt und einige umbringt. Das lesen wir und hören wir. Wir lesen auch, dass die israelische Bevölkerung weitere Bombardierungen gut gefunden hätte. Das ist alles erschreckend und macht Angst.

Gidon Levy schrieb einen Artikel in der israelischen Tageszeitung Haaretz u.a.: „Israel hat vieles gegen Gaza unternommen und die Menschen in Gaza sozusagen in Schach zu halten, versucht. Das hat nicht zum erhofften Erfolg geführt. Wie wäre es nun damit, Frieden mit Gaza zu schließen?“ In der Hoffnung, dass die Vernunft bei allen am israelischen-palästinensischen Konflikt beteiligten Parteien siegt, verbleibe ich für heute

Mit freundlichen Grüßen

Ihr

Abed Schokry