Jüdisch-Palästinensische Dialoggruppe

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Brief an Sabine Leutheusser-Schnarrenberger, Beauftragte gegen Antisemitismus der Landesregierung Nordrhein-Westfalen

München, 28.09.2019

Sehr geehrte Frau Leutheusser-Schnarrenberger,

durch den Tod unseres Freundes Rainer Sobek ist unser gemeinsames Treffen leider nicht zustande gekommen. Deshalb will ich Ihnen schreiben.

Ich erinnere mich sehr gern an die ausgezeichnete Diskussion mit Ihnen und meinem Mann in der Politischen Akademie in Tutzing vor einigen Jahren. Auch ist mir unser Treffen beim damaligen deutschen Botschafter in Tel Aviv, Herrn Andreas Michaelis, in Erinnerung geblieben. Sie waren gerade von Gesprächen mit Ihrer Amtskollegin Tsipi Livni aus Jerusalem zurück. Als wir am nächsten Tag bei einer Führung in Ost-Jerusalem beisammen waren, zeigten Sie sich über das Gesehene so entsetzt, dass Sie mich beiseite nahmen und meinten, das alles dürfe nicht wahr sein.

Heute bekleiden Sie das Amt der Beauftragten gegen Antisemitismus der Landesregierung Nordrhein-Westfalen. Es ist gut und wichtig, dass Sie sich gegen Antisemitismus einsetzen. Auch wir tun es (ich würde mich als gebürtige Israelin ins eigene Fleisch schneiden, wenn ich es nicht täte). Allerdings treten mein Mann und ich gegen jede Form von Rassismus auf. So wichtig es ist, dass Angriffe auf Juden öffentlich verurteilt werden, gibt es eine zweite Gefahr: Angriffe gegen die größte Minderheit in Deutschland, die Muslime. Ich frage, wieso es keine Beauftragung gegen Islamophobie gibt.

Seit einiger Zeit wird hierzulande jede Kritik an der israelischen Politik als Antisemitismus diffamiert, vor allem seit dem Bundestagsbeschluss vom 17. Mai gegen BDS. Mein Mann ist genötigt, gegen einen Mitarbeiter des Auswärtigen Amtes in Jerusalem juristisch vorzugehen, der ihn in seinem in Leipzig erschienenen Buch „Der neu-deutsche Antisemit“ beschuldigt hat, er würde tote Juden lieben, denn anders sei die von ihm und mir aufgebaute Bürgerinitiative Stolpersteine für München nicht zu erklären.

Durch die Veröffentlichung der beiden „Spiegel“-Artikel im Juli, das Interview mit Jürgen Trittin in der „taz“ und die nachfolgende Unruhe in der Bundestagsfraktion der Grünen wissen wir, wie diese Erklärung, der die Rechtsverbindlichkeit fehlt, zustande kam. Glaubt jemand, dass man den Antisemitismus dadurch bekämpfen kann, indem man die schändliche Politik der israelischen Regierung in den 1967 besetzten Gebieten ignoriert? Wir nehmen das ganz anderes wahr: Da sich die Bundesregierung regelmäßig nur „besorgt“ zeigt, schürt sie anti-jüdischen Ressentiments, die auch mich als Jüdin und meine Kinder treffen. Gestern sind wir informiert worden, dass ein „Aktionsforum Israel“ verkündet hat: „Das Paar Bernstein propagiert in Vorträgen Terror gegen Juden.“

Mich beschäftigt die Frage, für welches Israel wir alle eintreten – für das von Benjamin Netanyahu oder für das der israelischen Intellektuellen, die gegen den Bundestagsbeschluss protestiert haben? Als Juristin und frühere Bundesjustizministerin kennen Sie die Vorkehrungen in Artikel 3 und 5. Kann der öffentliche Einsatz für die Menschenrechte der Palästinenser antisemitisch sein?

Bei seinem Abschied aus Jerusalem hat Probst Wolfgang Schmidt gegenüber der FAZ erklärt, in Israel könne man Dinge sagen, die man in Deutschland nicht sagen dürfe. Es ist kein Zufall, dass Staatsleute wie Orbán, Kaczińsky und Bolsonaro zu den besten Freunden der israelischen Regierung gehören.

Was für ein öffentlicher Aufschrei wäre hierzulande zu Recht zu erwarten, wenn eine Vorlage wie jene des israelischen Nationalstaatsgesetzes vom Juli 2018 eingebracht würde, wonach Deutschland nur den deutschen Christen gehöre? Wie würde die deutsche Reaktion ausfallen, wenn sich in Berlin und in den Bundesländern Minister und Abgeordnete weigern würden, mit Juden zusammenzuarbeiten?

Meine Großeltern sind 1943 aus Erfurt deportiert und in Auschwitz getötet worden. Doch mit ihrer Ermordung lässt sich das Unrecht an den Palästinensern nicht heilen. Ein Freibrief für die israelische Politik darf der Holocaust nicht sein.

Auf Ihre Antwort freue ich mich.

Mit besten Grüßen

Judith Bernstein