Frankfurter Bürgerinnen und Bürger:
Elisabeth Abendroth, Renata Berlin, Herbert Kramm-Abendroth,
Renate Schnur-Herrmann, Helmut Suttor, Prof. Dorothee Roer, Dr. Ingo Roer
Offener Brief
an Herrn Uwe Becker (Frankfurt) in seiner Funktion als
Frankfurter Bürgermeister
und
Hessischer Antisemitismus-Beauftragter
Dezernat II - Finanzen, Beteiligungen und Kirchen
Römerberg 23
60311 Frankfurt am Main
Ihre Antisemitismus-Vorwürfe im Zusammenhang mit der Veranstaltung "Meinungsfreiheit statt Zensur" am 15.10.2019 im Titania-Theater in Frankfurt Bockenheim
Sehr geehrter Herr Bürgermeister Becker,
wir haben an der o.g. Veranstaltung teilgenommen, die Sie schon vorab am 11.10.2019 als "Sympathisanten-Treffen antisemitischer Israelhasser" diffamiert haben. Sie nahmen an der Veranstaltung nicht teil. Insofern Sie die Vorwürfe danach wiederholten, stützten Sie sich auf Mitteilungen des Stadtverordneten Kliehm (DIE LINKE), die dieser per Tweet während der Veranstaltung absetzte bzw. danach in den Medien verbreitete.
Wir haben zu dieser Veranstaltung ein Wortprotokoll erstellt (siehe Anhang). Dieses enthält alle Beiträge, mit Ausnahme der ersten 20 Minuten des Beitrags von Hartmut Bäumer. Da sich Ihre Vorwürfe, soweit sie Podiumsteilnehmer betrafen, ausschließlich gegen die Personen Judith Bernstein und Khalid Hamad richteten, ist das Wortprotokoll für die hier relevanten Fragen vollständig. Ein Link zu den Tonaufzeichnungen ist beigefügt. Der schriftliche Text kann also jederzeit überprüft werden.
Wir bitten Sie, gestützt auf diesen Text, Ihre Vorwürfe zu belegen. Wenn Sie dazu nicht in der Lage sind, müssen wir Sie auffordern die Vorwürfe zurück zu nehmen. Unabhängig davon erwarten wir eine Entschuldigung für Ihre Beleidigungen und Diffamierungen.
In diesem Zusammenhang möchten wir daran erinnern, was nach der IHRA-Arbeitsdefinition für Antisemitismus[1] als Voraussetzung für ein belastbares Urteil zu Antisemitismus formuliert wurde: Es muss eine konkrete, des Antisemitismus verdächtige Aussage vorliegen. Dazu werden eine Reihe beispielhafter Aussagen aufgeführt, die sodann unter Berücksichtigung des jeweiligen Gesamtkontexts zu interpretieren sind. Die formuliert IHRA-Definition formuliert im Grunde eine Banalität, die in einem von Vernunft und Respekt geleiteten öffentlichen Diskurs in einer Demokratie eine bare Selbstverständlichkeit sein sollte. Populisten und Demagogen, die einer postfaktischen Kultur huldigen, mögen das anders sehen.
Der Frankfurter BDS-Beschluss stützt sich, wie alle Antisemitismus-Beschlüsse mit BDS-Fokussierung , auf die IHRA-Definition. Es geht also um eine Begründung nach Regeln, die sich von selbst verstehen und die Sie mit der Zustimmung zur IHRA-Definition noch einmal bekräftigt haben.
Ihre Urteile zur Titania-Veranstaltung, es habe dort eine Dämonisierung bzw. Delegitimierung Israels stattgefunden, Israel sei als Apartheids-Staat diffamiert worden usw. können allenfalls als Behauptungen über solche Äußerungen antisemitischen Inhalts gewertet werden. Eine konkrete Äußerung, wie das die IHRA-Definition fordert, haben weder Sie noch Herr Kliehm auch nur einziges Mal angeführt. Derartige Behauptungen sind nicht kontextualisierungsfähig. Keines der beiden Elemente der IHRA-Definition ist darin erfüllt.
Sie haben sich unzweifelhaft als Amts- und Hoheitsträger geäußert. Das gilt für Ihre Antwort auf die Anfrage des Stadtverordneten Kirchner [2] ebenso, wie für Ihre (inzwischen gelöschte) Erklärung auf der Internetseite der Stadt Frankfurt (Sympathisanten-Treffen antisemitischer Israelhasser). In dieser Funktion gilt für Sie nicht die Meinungsfreiheit, wie für einfache Bürger. So wie Sie sich in der Öffentlichkeit als Amtsträger äußern, muss man vermuten, dass Ihnen die Rechtsprechung zur Äußerungsbefugnis vom Amts- und Hoheitsträgern[3] nicht geläufig ist - nach dreizehn Jahren als Dezernent und Stadtkämmerer in einer deutschen Großstadt.
Sie äußern sich zu völkerrechtlichen wie der Fragen zur ethnischen Säuberung in Nahost ,[4] kennen aber offensichtlich den Rechtsrahmen nicht, der für eine gesetzeskonforme Ausführung Ihrer Ämter grundlegend ist.
Auch für Sie gelten bestimmte Grundsätze wenn Sie sich in amtlicher Funktion öffentlich äußern, beispielsweise das Sachlichkeitsprinzip, das vom Bundesverwaltungsgericht u.a. so definiert wird, dass amtliche Äußerungen "nicht auf sachfremden Erwägungen beruhen dürfen, d.h. bei verständiger Beurteilung auf einem im Wesentlichen zutreffenden oder zumindest sachgerecht und vertretbar gewürdigten Tatsachenkern beruhen müssen, und zudem den sachlich gebotenen Rahmen nicht überschreiten dürfen". [5]
Sie äußerten über Frau Bernstein am 7.11.2019 auf die Frage des StV Kirchner in der StVV, sie würde "in Deutschland Land auf und Land ab touren und nichts anderes machen, als israelbezogenen Antisemitismus verbreiten" [6]
Sie waren nach der Titania-Veranstaltung noch nicht einmal in der Lage zu sagen, was Frau Bernstein in Frankfurt gesagt hat. Woher wollen Sie wissen, was sie in Deutschland verbreitet? Ihre Äußerung ist nicht nur für jeden erwachsenen Menschen als offensichtlich unwahre Behauptung erkennbar, sie ist darüber hinaus nichts anderes als primitive Hetze gegen ein Deutsche jüdischer Herkunft, die Angehörige im Holocaust verloren hat. [7]
So wie Sie sich hier und überhaupt in diesem Kontext äußerten, konnten Sie gar nicht in die Verlegenheit kommen, einen Tatsachenkern "sachgerecht und vertretbar" würdigen zu müssen, weil Sie, wenn es um Antisemitismus geht, weitgehend ohne Tatsachenkern auskommen.
Im Streitgespräch mit Micha Brumlik am 5.12.2019 im Club Voltaire[8] äußerten Sie "Ich habe an keiner Stelle gesagt, dass Frau Bernstein antisemitisch ist". Sie haben Frau Bernstein als Antisemitin beschrieben ohne sie explizit als solche zu bezeichnen. Sie geben vor die AFD zu bekämpfen, machen aber von deren Methode der diffamierender Insinuationen Gebrauch.
In seiner Analyse zu "Methoden und Strategien" am "Rechten Rand" beschreibt der Politikwissenschaftler Thomas Meyer das Stilmittel der Insinuation so:
„Insinuation wird gehandhabt als die starke und letztendlich eindeutige Andeutung des Gemeinten, die nichts offen läßt, ohne aber das Gemeinte zitierbar eindeutig zu sagen. Die Methode der Insinuation beruht auf dem Prinzip, etwas in der Sache zu behaupten, ohne es in der Form beweiskräftig behauptet zu haben. Die Eingeweihten wissen, was gesagt werden soll. Gegen jeden Außenstehenden kann das Gemeinte mit Verweis auf den nackten Wortlaut, wo es angebracht erscheint, bestritten werden.“ [9]
Sie haben die Betreiber des Club Voltaire aufgefordert zur Einsicht zu kommen und sich zu entschuldigen, es sei eine Rote Linie überschritten worden. Wir geben Ihnen hiermit die Gelegenheit, dies zu begründen - faktenbasiert. Sie haben diese Aufforderung an den Club Voltaire nämlich zu keinem Zeitpunkt mit geeigneten, allgemein akzeptierten Argumenten begründet und durch Fakten belegt.
Ihrer Antwort sehen wir mit Interesse entgegen.
Mit freundlichen Grüßen
Helmut Suttor - auch im Namen der genannten Frankfurter Bürgerinnen und Bürger
Laubestr 6
60594 Frankfurt
[1] https://www.holocaustremembrance.com/working-definition-antisemitism
[2] Frage/Antwort Kirchner/Becker https://www.stvv.frankfurt.de/PARLISLINK/DDW?JAHR=2010&JAHR_O=gr%F6%DFer+gleich&DATUM=31.12.2019&DATUM_O=kleiner+gleich&TEXT=BDS&TEXT_O=beinhaltet+%28ungef%26%2365533%3Bhr%29&FORM_C=und&DOKUMENTTYP=WORT&FORMFL_OB=DATUM&FORM_SO=Absteigend&?2?1?#BWHR2
[3] https://www.bundestag.de/resource/blob/556768/776c7bb3e6cd1fd9ed85e539cca79b59/wd-3-074-18-pdf-data.pdf
[4] https://www.journal-frankfurt.de/journal_news/Politik-10/Uwe-Becker-kritisiert-Amnesty-International-Meron-Mendel-Beckers-Reaktion-ist-ueberzogen-33493.html
[5] https://www.bverwg.de/111110B7B54.10.0
[7] https://www.jrbernstein.de/blog-1/2020/1/28/im-gedenken-an-meine-groeltern
[8] Becker im Streitgespräch mit Micha Brumlik am 5.12.2019 im Club Voltaire, https://www.youtube.com/watch?v=tB7iW27vuew&feature=youtu.be, Minute 35 ff
[9] Vgl. Thomas Meyer, Methoden und Strategien. Insinuation als Stilmittel, in: Friedrich-Ebert-Stiftung /Akademie der Politischen Bildung (Hrsg.), Am rechten Rand, Analysen und Informationen für die politische Bildung, Bonn 1995, S. 18.