Beitrag von Judith Bernstein: „Dort ein Volk, es wohnt für sich, es zählt sich nicht zu den Völkern.“ (Numeri. 23,9)

הן עם לבדד ישכון ובגויים לא יתחשב

„Dort ein Volk, es wohnt für sich, es zählt sich nicht zu den Völkern.“ (Numeri. 23,9)

Martin Buber und Franz Rosenzweig übersetzen den Vers so: „Da, ein Volk einsam wohnt es, unter die Erdstämme rechnet sich‘s nicht“.

Angefangen von dem ersten israelischen Premierminister David Ben-Gurion, der von einem jüdischen Staat sprach und dementsprechend die Palästinenser während des israelischen „Unabhängigkeitskriegs“ vertrieben hat, bis zum jetzigen Premierminister Benjamin Netanjahu, der versucht, Israel und die 1967 eroberten Gebiete „palästinenserfrei“ zu machen,[1] hat sich eine Politik durchgesetzt, die keine echte Friedenslösung zulässt.

Aber kann ein Volk ein Land für sich beanspruchen, das schon bewohnt ist? Ich meine nicht. Das haben schon die Mitglieder von Brit Shalom (Bund des Friedens) erkannt. Es waren vorwiegend jüdische Intellektuelle aus dem deutschsprachigen Raum wie u.a. Martin Buber, Gershom Scholem und Judah Magnes, die sich als die „Spätkommenden“ sahen. In ihrem Manifest von 1929 schrieben sie:

Dem Brith Schalom schwebt ein binationales Palästina vor, in welchem beide Völker in völliger Gleichberechtigung leben, beide als gleich starke Faktoren das Schicksal des Landes bestimmend, ohne Rücksicht darauf, welches der beiden Völker an Zahl überragt. Ebenso wie die wohlerworbenen Rechte der Araber nicht um Haaresbreite verkürzt werden dürfen, ebenso muss das Recht der Juden anerkannt werden, sich in ihrem alten Heimatlande ungestört nach ihrer nationalen Eigenart zu entwickeln und eine möglichst große Zahl ihrer Brüder an dieser Entwicklung teilnehmen zu lassen.“[2]

Dieses Manifest wäre die Chance für die Juden gewesen, im Nahen Osten anzukommen. Leider haben die Israelis es aber vorgezogen, ihren Staat mit Gewalt zu erobern, anstatt ihn gemeinsam mit der dort ansässigen Bevölkerung zu gründen. War es notwendig, die palästinensischen Orte zu zerstören und die Bevölkerung zu vertreiben?  Damit begann für die Palästinenser die bis heute anhaltende Nakba (Katastrophe). Sämtliche israelische Regierungen haben damit in Kauf genommen, dass Israel immer ein Fremdkörper in der Region bleibt.
Das Schicksal der vertriebenen Palästinenser interessierte nach 1948 niemanden.

Letztlich hat das Versagen der Weltgemeinschaft während der Nazizeit und ihr entsprechend schlechtes Gewissen einen wesentlichen Beitrag zur Gründung des Staates Israel geleistet. Für Israel war die Zeitspanne zwischen 1945, als Jüdinnen und Juden aus den KZ kamen, bis zur Gründung des Staates im Jahr 1948 zu kurz. Die Opfer des Holocaust hatten kaum Zeit, ihre Traumata zu überwinden und sahen sich plötzlich in einer Situation, in der ihr Kampf um eine sichere Heimat zu anderem Unrecht führte. Es gelang ihnen nicht anzuerkennen, dass die dort lebende Bevölkerung die „Spätkommenden“ zunächst wohlwollend aufgenommen hatte, obwohl sie auf einen Teil ihres Landes verzichten musste.

Die Zerstörung von Häusern und ganzer Dörfer belegt, dass es der jüdischen Bevölkerung nicht um ein Zusammenleben ging. Man suchte keine Lösung für beide Völker, sondern hatte nur die Sicherheit des neuen jüdischen Staates im Sinn.

Im Laufe der Jahre haben die Palästinenser mit israelischer Staatsbürgerschaft immer wieder gezeigt, dass sie bereit waren, mit den Israelis zusammenzuleben. Heute, nach diesem grauenhaften Krieg in Gaza, kann ich mir nicht vorstellen, dass ein vertrauensvolles Miteinander überhaupt noch möglich ist.

Deshalb ist die Rede von der Zwei-Staaten-Lösung oder der Ein-Staaten-Lösung nur ein Mantra, das der Westen aus Verlegenheit vor sich herträgt, weil er sich nie ernsthaft mit einer richtigen Lösung des Konflikts beschäftigt hat. Nach diesem brutalen Krieg sehe ich keine Lösung mehr. Israel trägt jetzt ein Kains-Zeichen auf der Stirn. 

Noch unterstützt der Westen Israel aus eigenen Interessen. Aber es zeigt sich, dass schon heute z.B. der Globale Süden eine andere Politik im Nahen Osten einschlagen würde. 

Meine Befürchtung ist, dass sich die jüdische Geschichte ein weiteres Mal wiederholen wird. Es gab immer wieder Versuche von Juden, im Heiligen Land zu siedeln, doch sind sie damit letztlich immer gescheitert – wie beispielsweise unter den Griechen und Römern. Es drängt sich der Gedanke auf, dass es ein jüdisches Schicksal ist, keine dauerhafte friedliche Heimat zu finden. Das Judentum hat in der Geschichte nur überlebt, weil es irgendwo in der Welt immer eine Gruppe gab, die das Judentum weitergetragen hat. Als Minderheit wurden sie verfolgt, und als Mehrheit wurden sie im Heiligen Land von Opfern zu Tätern. Vielleicht stimmt der biblische Satz tatsächlich: „Ein Volk es wohnt für sich – es zählt nicht zu den Völkern”.

 Ich hoffe jedoch, dass diejenigen Israelis, die sich seit vielen Jahren um ein Zusammenleben mit den Palästinensern bemühen und sogar Repressalien von der eigenen Bevölkerung und Regierung dafür in Kauf nehmen müssen, nicht vergessen werden.

Der jetzige Gazakrieg hat auch innerhalb Israels zu einer Radikalisierung und Abkehr von demokratischen Prinzipien geführt. So klären nicht nur die Regierung und das Militär ihre eigene Bevölkerung nicht darüber auf, was in Gaza passiert, auch die Medien (bis auf die liberale Zeitung „Haaretz“) berichten kaum über den Tod und die Zerstörung im Gazastreifen. Konsequenterweise hat die israelische Regierung den Sender Al Jazeera zum Sender der Hamas deklariert und ihn in Israel verboten. Der katarische Sender hatte berichtet, was der israelischen Bevölkerung vorenthalten werden soll.  

Die Mehrheit der israelischen Bevölkerung interessiert sich nur für ihre eigenen Opfer, nicht aber für die mittlerweile über 35.000 toten Palästinenserinnen und Palästinenser und die Zerstörung ihrer Häuser, Krankenhäuser, Universitäten und Moscheen.  

Deshalb kann man von der Mehrheit der Juden in Israel nicht als „Licht für die Völker“ sprechen, (Jesaja 49,6). Vielmehr passt hier das Zitat: „Ein Volk, es wohnt für sich. Es zählt sich nicht zu den Völkern“.

 

[1] Das Zitat ist dem Buch meines verstorbenen Mannes Reiner Bernstein „Wie alle Völker...? Israel und Palästina als Problem der internationalen Diplomatie“ entnommen.

[2] Das Nationalstaatsgesetz von 2018 zementiert die Idee von einem rein jüdischen Staat, der nur den Juden gehört, sehr deutlich

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