Jude und Palästinenserin. Trotz aller Unterschiede geht eine Zukunft für Israel und Palästina nur gemeinsam

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28. September 2016

Ausriss aus Haaretz v. 12.05.2016

Unser Friede ist ein Puzzle.
von Avraham Burg und Ghaida Rinawie-Zoabi

Wir sind zwei. Noch sind wir ungleiche Partner. Ähnlich und verschieden. Der eine, ein Mann aus der Mehrheitsgesellschaft, der alles hat. Die andere, eine Frau aus der Minderheit, der man praktisch nichts übrig gelassen hat. Und doch sind wir zusammen, um einer menschlichen, gerechten und fairen Zukunft willen, für uns und unsere Kinder.

Ich bin eine Araberin, eine in Israel geborene Palästinenserin. Meine Familie lebt seit Jahrhunderten hier. 1948 haben wir beinahe alles verloren, und wieder einmal gibt es vieles, das wir unseren Kindern vermitteln können. Ich bin eine säkulare Muslimin, die sich um ihre Kinder und um unsere Lebensumstände sorgt. Ich hüte die Erinnerungen meiner Vorfahren. Ich vergesse nicht, aber ich lebe auch nicht nur in der Vergangenheit. In diesen Tagen finde ich keine Zuflucht. In den Stürmen, die über den arabischen Staaten toben, ist immer weniger Raum für meine weltliche Einstellung. Als Araberin, stolze Tochter einer traurigen Minderheit, fühle ich mich zurückgewiesen von den gönnerhaften jüdischen Frauen. Und der Nahe Westen heißt mich als Muslimin nicht wirklich willkommen.

Ich bin ein in Israel geborener Jude, mütterlicherseits seit acht Generationen in Israel, väterlicherseits in erster Generation. Ich wuchs privilegiert auf: ein Mann, ein Aschkenase, Sohn einer Familie der religiös-zionistischen Aristokratie und Erwählter der Arbeiterbewegung. Als ich im komfortablen Zentrum des lässigen israelischen Mainstreams lebte, hatte ich mich selbst aufgegeben. Und jetzt, da ich es ablehne, mich über Stammeszugehörigkeit, Vererbung, jüdische Volkszugehörigkeit oder religiöse Engstirnigkeit definieren zu lassen, bleibt mir kaum mehr als ein Klumpen Erde als Standort.

Mahmoud Darwish – Rabbi Hillel

Wir sind zwei, wir sind Zehntausende. ZualIererst sind wir gleich, allen Ungleichheiten zum Trotz. Erst danach kommt all der Rest. Wir wissen: Als die Welt und der Mensch erschaffen wurden, gab es keine Religionen und keine mächtigen, ausschließenden Institutionen. Es gab keine Grenzen, und Diskriminierung musste erst noch erfunden werden. Garten Eden wurde es genannt, und das ist der Ort, zu dem wir gehen wollen.

Ich begreife, dass ich, wenn ich in rigiden Definitionen gefangen bleibe, mein Selbst teilweise aufgeben muss, um absolut und einseitig zu werden und meinen Partner zu bekämpfen. Doch fühle ich mich dem verpflichtet, was der verstorbene palästinensische Dichter Mahmoud Darwish einmal sagte: ,,Wenn es keinen Fremden in meiner Identität gibt, erkenne ich mich nicht selbst. Ich kann nur definiert werden durch die dialektische Beziehung zwischen mir und dem anderen. Wäre ich alleine, ohne einen Mitmenschen, was würde ich verstehen? Ich wäre angefüllt mit mir selbst, mit meiner eigenen Wahrheit…” Jeden Tag danke ich neu für meinen jüdischen Partner. Denn wenn nicht für ihn, so wäre ich allein unterwegs mit dem Gefühl, selbstgerecht und gnadenlos über andere urteilen zu können.

Die Lehre von Hillel, einem Rabbiner, der hundert Jahre vor der Zeitenwende geboren wurde, ist meine Identität: “Was für dich verabscheuungswürdig ist, das füge keinem anderen zu” und: “Wenn ich nicht für mich bin, wer ist dann für mich? Wenn ich nur für mich bin, was bin ich dann? Und wenn nicht jetzt, wann dann?” In Martin Bubers Auslegung heißt das: Der Himmel hat verboten, dass wir anderen antun, was uns angetan wurde. Wir müssen uns selber sehen, als wären wir in der Lage des Anderen, des Fremden, und wir müssen uns mit seiner Seele verbinden, als wäre es unsere eigene. ,,Ich muss bekennerf’, schrieb Buber, ,,ich bin entsetzt darüber, wie wenig wir die Araber kennen.” Jeden Täg bin ich meiner palästinensischen Partnerin dankbar, denn anders wären meine demokratischen und humanistischen Überzeugungen längst ausgelöscht.

Gemeinsam versprechen wir…

Wir begreifen, dass weiterzuleben von uns verlangt, bestimmte Dinge hartnäckig zu bewahren, und dass es Dinge gibt, die aufzugeben wesentlich ist – für etwas, das weitaus besser ist. Zuerst und vor allem verzichten wir auf Exklusivität. Keiner von uns hat ein Monopol auf Leid und Schrecken. Es gab einen Holocaust, und es gab eine Nakba, die die Palästinenser bei der Gründung des Staates Israel erlitten. Wir vergleichen nicht, wermehr gelitten hat. Jeder von uns trägt in sich Felder von Leid und Erinnerung. Wir zeigen Respek, stehen in unserem Leid zueinander, und wir leugnen nichts.

Wir brauchen kein Monopol auf unser Hiersein. In diesem gequälten Land ist Platz für alle von uns, manchmal gemeinsam und manchmal getrennt. Ich als Palästinenserin verzichte auf ein Palästina für uns allein. Und ich als jüdischer Israeli verzichte auf lsrael als Land ausschließlich fiir Juden. Unser Frieden ist ein Puzzle, ein Frieden der Ergänzung. Mein Anteil und dein Anteil schaffen ein Ganzes, das größer ist als seine Teile. Wir können nicht Frieden schließen mit uns allein. Frieden wird gemacht mit dem, was widerständig, unstimmig ist, indem wir zum Beispiel verschiedene Musikinstrumente, Töne und Menschen zu einer Harmonie verbinden: Violine und Laute (arabisch: Oud), Mawwal (traditionelle arabische Vokalklänge vor Beginn eines Liedes) und Oktave, Umm Kulthum (äglptische Sängerin und Musikerin) und Chava Alberstein (israelische Sängerin und Komponistin).

Ich, eine Palästinenserin, bin bereit, einige Nähte zwischen mir und dem arabischen Raum um mich aufzutrennen, um die lange Geschichte der jüdischen und arabischen Koexistenz wiederzuerkennen. Ich will die Brücke sein zwischen den neu-alten jüdischen Abkömmlingen und all jenen, die nicht in den Genuss kommen, mit ihnen und in ihrer Nachbarschaft zusammenzuleben.

Und ich, ein Jude, verzichte auf Teile des israelischen Charakers, auf die aschkenasisch-europäische koloniale Herablassung. Ich muss mich den arabischen Bestandteilen meiner Identität öffnen: den arabischen Juden – und dem jüdischen Erbe aus den islamischen Ländern, die uns Brücken bauen, einen kulturellen Raum schaffen und das Gespräch bereichern. Ich werde niemals die palästinensische Amme meiner Mutter vergessen und auch nicht Umm Shaker, die ihr in Hebron das Leben rettete. Meine jungen Enkel plappern schon arabisch. Mir ist klar, dass mein Monopol über Land und Macht, Ressourcen, Gleichheit und Freiheiten in dem Raum zwischen Mittelmeer und Jordan mich an einer viel reicheren Partnerschaft hindert. Es ist seltsam, aber die Beschränkung meines jüdischen Selbst kann mich öffnen für bisher verschlossene Welten.

Und ich, eine Palästinenserin, muss den Riss in den jüdischen Gefühlen verstehen lernen. Innerhalb der Grenzen ,,ihres” Israel sind sie die eine Mehrheit, die mich brutal niedertrampelt. Hingegen bin ich in meinem Gebiet die Mehrheit, und sie sind eine kleine Minderheit, was sie so furchtsam und aggressiv macht. Merkwürdig genug stellt sich heraus, dass ich tatsächlich die Einzige bin, die sie beruhigen kann. Wir bestreiten nicht die unterschiedliche und gewaltsame Vergangenheit unserer Eltern und unserer selbst. Wir vergessen auch nicht für eine Minute die Ungerechtigkeit und den Irrsinn. Wir wollen nicht die Zukunft unserer Kinder aufs Spiel setzen, weder getrennt noch miteinander. Gemeinsam versprechen wir, uns vom Bösen abzuwenden und das Gute zu tun, jeden Fanatismus in ihrem oder meinem Bereich zu bekämpfen und gemeinsam eine dritte Gruppe zu bilden. Die Gruppe der vielen Täusend, die einmütig sind in dem Glauben an den wagemutigen menschlichen Geist. Wir sind die Gruppe, die auf das Absolute und auf das Begrenzte verzichtet – zugunsten von Verständigung, Leben und Frieden ohne Ende.

Der Beitrag erschien in der israelischen Tageszeitung “Haaretz” am 12. Mai 2016Übersetzung von Veit Schäfer.

 

Avraham Burg. Free Document License

Avraham Burg war in linken Organisationen wie Schalom Achschaw aktiv. 1983 war er auf der Peace-Now-Demonstration, bei der Emil Grünzweig von dem Rechtsradikalen Jona Avruschmi mit einer Handgranate ermordet wurde. Burg wurde durch den Splitter dieser Granate verletzt. 1988 wurde er für die Arbeitspartei in die Knesset gewählt. 1995 legte er sein Mandat nieder, nachdem er zum Vorsitzenden der Jewish Agency bestimmt worden war. 1999 bis Anfang 2003 war Burg Präsident der Knesset. In dieser Funktion nahm er vom 13. Juli bis 1. August 2000 verfassungsgemäß die Aufgaben des zurückgetretenen Staatspräsidenten Ezer Weizmann wahr. 2001 kandidierte er erfolglos für den Vorsitz der Arbeitspartei.

Im Herbst 2003 erregte ein Artikel von Burg Aufsehen, der zuerst in Jedi’ot Acharonot erschien und unter anderem ins Englische und ins Deutsche übersetzt wurde. In diesem Artikel urteilte Burg, Israel müsse seine Illusionen aufgeben und sich zwischen rassistischer Unterdrückung oder Demokratie entscheiden. Er forderte den Rückzug Israels aus den besetzten Gebieten. 2004 zog sich Burg aus der Politik zurück. In einem Interview für Haaretz im Juni 2007 anlässlich der Veröffentlichung seines Buchs Lenazeach et Hitler (Hitler besiegen) stellte er eine Reihe von Kernthesen des Zionismus in Frage. 2009 erschien sein Buch auch auf Deutsch. Anfang Januar 2015 gab Burg seinen Beitritt zum linken Parteienbündnis Chadasch. (Quelle: wikipedia)