Wer soll über Antisemitismus sprechen?
„Antisemitismus und der Kampf um Gerechtigkeit“ in der New School for Social Research
von Shaul Magid TIKKUN 30.11.17
Anm. des Herausgebers: Shaul Magid beantwortet im Folgenden eine Reihe von Vorwürfen, die in anderen jüdischen Publikationen veröffentlicht wurden, in Zusammenhang mit einer Veranstaltung über Antisemitismus, die von JVP, der führenden jüdischen Organisation in der Unterstützung von Boycott, Divestment and Sanctions (BDS) in der jüdischen Welt, gesponsert wurde. Tikkun hat BDS nicht befürwortet, und unsere Leser haben ein breites Spektrum von Meinungen darüber, inwieweit eine solche Strategie sinnvoll ist, das zu erreichen, was wir gutheißen - Frieden und Gerechtigkeit für beide, Israelis und Palästinenser. - Wir unterstützen aber das Recht Anderer, die Versionen von BDS zu unterstützen, die nicht ein Ende der Existenz des Staates Israel anstreben. Wir planen in einer der kommenden Ausgaben eine umfangreichere Diskussion über BDS, insbesondere darüber, ob BDS eine kluge Strategie ist.
Rabbi Michael Lerner
Am Abend des 28. November 2017 veranstaltete die New School for Social Research in Manhattan, seit langem fortschrittlicher Politik und Kulturkritik verpflichtet, eine Veranstaltung mit dem Titel: „Antisemitismus und der Kampf um Gerechtigkeit“. Es war zum Teil eine Feier anlässlich der Bucherscheinung von On Antisemitism: Solidarity and the Struggle for Justice (Über Antisemitismus: Solidarität und der Kampf um Gerechtigkeit), veröffentlicht 2017 von Haymarket Books, gesponsert von Jewish Voice for Peace (Jüdische Stimme für Frieden). Vier Diskussionsteilnehmer befanden sich auf dem Podium; Leo Ferguson, der für Jews for Racial and Economic Justice arbeitet, Lina Morales, eine latino-aschkenasische jüdische Aktivistin aus Chicago, die sich als bi-racial sieht und offen als Anti-Zionistin bezeichnet, Rebecca Vilkomerson, Geschäftsführerin bei Jewish Voice for Peace, einer progressiven jüdischen Organisation, die BDS (Boycott, Devestment, Sactions) gegen Israel unterstützt, und die palästinensisch-amerikanische Aktivistin Linda Sarsour. Die Veranstaltung erntete scharfe Kritik in jüdischen Medien, schon Tage bevor sie stattfand, unter andrem mit der Behauptung, diese Diskussionsteilnehmer hätten nicht das Recht, auch seien sie ungeeignet, über Antisemitismus zu sprechen. Vor dem Vortragssaal der New School stand eine Ansammlung von Protestierenden, breit gefächert von jüdischer Mitte-Rechts zu Ganz-Rechts; einige forderten, der New School für die Beherbergung solch einer Veranstaltung die Zuschüsse zu streichen. Die Veranstaltung konnte reibungslos stattfinden, ausgenommen zwei kleine Unterbrechungen in der Fragen-und-Antworten - Phase.
Ich habe die ausverkaufte Veranstaltung besucht und werde im Folgenden einige Überlegungen mitteilen, die hoffentlich informativ sind und weitere Gespräche befördern. Ich werde nicht zu anschaulich beschreiben, da ein Video der Veranstaltung im Internet zu sehen ist, für die, die sich gerne selbst ein Bild machen wollen.
Zuerst zur Frage, warum diese vier Menschen das Recht haben könnten, über Antisemitismus zu sprechen. Es war kein akademisches Podium, auch keine „Experten“-Runde. Es war eine Runde von Aktivisten, progressive Leute, aktiv auf Amerikas Straßen, in der Öffentlichkeit, beschäftigt mit einer Vielfalt von Problemen und Themen wie Ungleichheit, Ungerechtigkeit, Fanatismus, Bigotterie und Hass. Antisemitismus gehört dazu. Es gab also keine intelligenten Vorträge zu Foucault oder verschlungene kritische Analysen die Gavin Langmuir mit Robert Wistrich vergleichen (beide sind Antisemitismus-Historiker), oder Diskussionen über historische Präzedenzfälle oder vergleichbare Genozide. Keine raffinierten Lacanischen, Deleuzeischen oder Zizekischen Verwicklungen. Alle auf dem Podium zeigten sehr klar, wer sie sind, was sie tun, und wie dieses Thema ihre Arbeit und ihr Leben beeinflusst und warum es ihnen wichtig ist.
Wie mir Annette Yoshiko Reed sagte, das war Positionieren im besten Sinne. Hier war für mich die vielleicht beste Lektion, warum es amerikanischen Juden so schwer fällt, zu verstehen, woher diese Leute kommen. Für die Diskussionsteilnehmer ist Antisemitismus nicht sui generis, (an diesem Punkt hören viele amerikanische Juden einfach auf, zuzuhören); es ist eine von vielen unterschiedlichen Formen inakzeptablen Hasses. Ja, Antisemitismus hat seine eigene lange und schmerzhafte Geschichte, ebenso wie Rassismus in Amerika, und ich möchte nicht empfehlen, alle Formen von Hass in ein hübsches Packet zusammenzufalten. Für diese Diskussionsteilnehmer ist Antisemitismus nicht etwas, das als grundsätzlich verschieden von anderen Formen des Fanatismus, der Bigotterie, behandelt werden muss. Dieser Punkt genau bleibt strittig in der akademischen Holocaust- und Genozid-Forschung. Und Antisemitismus hat sicher nicht nur mit Israel zu tun, sondern mit Juden überhaupt. Die Tatsache, dass das erwähnt werden muss, und es muss, sagt viel über das Problem, mit dem wir heute konfrontiert sind.
Das Podium tritt unter der Voraussetzung der Intersektionalität zusammen,
eine Vorstellung, die amerikanische Juden zum Wahnsinn treibt, eine Vorstellung, die gleichzeitig den Einsatz für Black Lives Matter und AIPAC untergräbt, die (übrigens nicht neue) Idee, dass alle Formen der Unterdrückung zusammen hängen, (sie existierte in anderer Form im Neuen Linken „Internationalismus“), im Prinzip und in der Praxis; (Hinweis: Dies könnte sich von der originalen Definition von Intersektionalität unterscheiden, die von der feministischen Bürgerrechtlerin und Rassentheoretikerin Kimberlé Williams Crenshaw geprägt wurde, ist aber trotzdem eine Definition, die in heutigen Aktivisten-Gruppierungen häufig genutzt wird.) Das trifft ins Herz eines oft reflexhaften jüdischen Exzeptionalismus und rührt her von der für Juden in Amerika schwierigen Herausforderung, dass sie nicht die am andersten Anderen sind; damit klar zu kommen, dass Rassismus Antisemitismus übertrumpft in diesem fruchtbaren Feld, dass Rassismus, nicht Antisemitismus, Teil eben der (legalen, kulturellen, politischen) Struktur unseres Landes ist, dass eine farbige Person wahrscheinlich eher auf der Straße in einer unserer Städte schikaniert wird als ein weißer Jude, eher von unserer Polizei verhaftet, eher systematisch inhaftiert wird.
Es gibt in unserer Gesellschaft ganz bestimmt Antisemitismus, und man muss sich damit auseinandersetzen; jedes Forum wird das anerkennen; aber das ist es nicht was dies Land auseinander zu reißen droht, wie in der Weimarer Republik. Rassismus ja.
Diese Diskussionsteilnehmer haben das selbe Recht über Antisemitismus zu reden wie sie das Recht haben, über Ungleichheit zwischen den Geschlechtern, über Rassismus, über Polizei-Brutalität und Armut zu sprechen. Weil sie jeden Tag da draußen genau darum und um noch viel mehr kämpfen. Haben sie „Fehler“ gemacht? Ja, natürlich. Wenn sie sich zu weit in die Geschichte wagten, oder auch in den analytischen Bereich, unterliefen ihnen sachliche Irrtümer oder sogar Fehler in der Beschreibung. Mir haben aber diese Ecken und Kanten in allem gefallen; sie behaupten nicht, Experten zu sein, und ihre Schnitzer haben die wesentliche Botschaft nicht geschwächt.
Zweitens: Antisemitismus definieren. Haben sie Antisemitismus „definiert“? Nicht wirklich. Das ist in Ordnung, denn alles was über eine Arbeits-„Definition“ hinausgeht, wäre meiner Meinung nach ein Fallstrick. (Siehe hierzu Gavin Langmuts Toward a Definition of Antisemitism oder David Engels Essay „Against Defining Anti-Semitism“.) Sie beschrieben ihn, leidenschaftlich, und brachten ihn in Zusammenhang mit einer größeren Struktur von Hass in Amerika. Sie alle bestätigten Antisemitismus in der weißen suprematistischen Rechten, in der progressiven Linken, und in der muslimischen Welt. Da ich zufällig über Meir Kahane forsche, kann ich nicht umhin, eine Äußerung von ihm zu erwähnen. Mit vielem von dem, was er sagte, stimme ich nicht überein, aber hier, glaube ich, hat er recht. Wie bekannt kämpfte Kahane während seiner ganzen Karriere in Amerika gegen die Linke (jüdisch und amerikanisch), gegen Antisemitismus in der schwarzen nationalistischen Bewegung, in der arabischen Gemeinde, etc. In einem Interview in den frühen 70er Jahren, in dem er gefragt wurde, was gefährlicher wäre, Antisemitismus von rechts oder von links, antwortete er ausdrücklich, es gäbe hier keinen Wettbewerb, Antisemitismus von rechts sei weit mehr gefährlich für Juden als Antisemitismus von links, einschließlich Black Panters, einschließlich muslimische Welt. So gilt auch für unsere Diskussionsteilnehmer, ob man ihnen zustimmt oder nicht, es gibt keinen Vergleich zwischen dem Antisemitismus, der in der Anti-Israel-Kampagne auftaucht und Charlottesville. Vielleicht weil Israel für so viele amerikanische Juden zum religiösen Dogma geworden ist, zur „zivilen Religion“, fällt es ihnen manchmal schwer, das zu sehen.
Einzusehen, dass es Antisemiten geben könnte, die pro-Israel sind, sogar Zionisten, ist für viele von uns unstimmig. Aber es ist real. Und dieser blinde Fleck ist wirklich gefährlich. Die Tatsache, dass ZOA (Zionist Organisation of America) Steve Bannon einladen kann, und Sebastian Gorka und Morton Klein in den Breitbart News veröffentlichen können, ist für mich weitaus alarmierender, und gefährlicher, als Juden, die mit Linda Sarsour marschieren.
Drittens: In vieler Hinsicht war die Veranstaltung so breit beworben wie sie eben wurde, und so umstritten, wegen Sarsour. Sie erinnert mich an jemanden, der über den Gitarristen von Grateful Dead, die Gegenkultur-Ikone Jerry Garcia sagte: „Jerry Garcia hat niemals existiert. Er war nur eine Erfindung aus Robert Hunters Phantasie.“ Linda Sarsour wurde zum Phantasie-Produkt besorgter amerikanisch-jüdischer Einbildungskraft. Irgendwie füllt sie die Rolle, die Edward Said in den 80ern und 90ern spielte. Allerdings hat Said das Abendland okzidentalisiert; er war klassischer Pianist, schrieb wissenschaftliche Abhandlungen über Joseph Conrad und englische Literatur, hatte Brooks-Brothers-Anzüge an, sprach eher wie ein Oxford-Dozent als ein Angeber vom Schulhof, er war palästinensischer Christ und nicht Muslim. Ein akademischer Kollege sagte mir einmal: „ Das Problem mit Said ist, er ist pro-palästinensisch.“ „Nein“, antwortete ich, „er ist nicht pro-palästinensisch, er IST palästinensisch“.
Sarsour dagegen ist keine Professorin einer Elite-Universität; sie sieht aus, als käme sie aus Baghdad und spricht, als käme sie aus Bensonhurst in Brooklyn. Sie kann den Swing von der Straße und bewegt doch ihre Hände wie ein Balletttänzer. Sie ist ein Brooklyn-in-your-face-Aktivist. Und sie ist eine stolze palästinensische Amerikanerin, die sich offen gegen das stellt, was sie „Israel, den Apartheid-Staat“ nennt. Sie dürfen gerne widersprechen, das ist für sie in Ordnung; sie hat aber sicher das Recht, ihre Meinung zu sagen. Sie erinnert im Tonfall an Malcolm X, ist aber weniger militant. Wie Malcolm ist sie ein großartiger Performer. Geben Sie ihr ein Mikrofon und sie hat das Publikum in zehn Sekunden in ihren Bann gezogen. Sehen Sie sich Videos von Malcolm X an, und Sie wissen, was ich meine.
Ich denke, was viele mitte-links amerikanische Juden bei Sarsour rasend macht, ist, dass sie sich aktiv engagiert bei vielen Themen, bei denen sie zustimmen. Progressive Angelegenheiten wie Gefängnis-Reform, die Rechte von Migranten-Arbeitern, Transphobie, Islamophobie, geschlechtliche Diskriminierung, Gewerkschaften, Armut, Reform der Gesundheitsversorgung, etc. Ihr politischer Held ist ein Jude aus Brooklyn mit Namen Bernie Sanders. Die Liste geht noch viel weiter. Wenn sie also auf die Bühne tritt, im Hijab, gegen Israel, treibt es manche von uns zum Wahnsinn. Sie stellte eine interessante Frage an amerikanische Juden, sie sagte: „Ich bin palästinensische Amerikanerin, meine Großeltern sind in Palästina geboren und aufgewachsen, wie auch meine Familie Generationen lang, sie wurden vom zionistischen Staat von dort verdrängt. Wollen Sie mir sagen, was ich über Zionismus denken soll?“ Das erinnert mich an eine Anekdote, in der ein Zionist Zionismus beschreiben soll. „Klar“, sagt er, „Zionismus ist wie ein Mann, der aus dem Fenster im dritten Stock eines brennenden Gebäudes springt, … und auf dem Kopf eines andern landet.“ Der Zionismus landete auf dem Kopf von Sarsours Familie (und so vieler anderer palästinensischer Familien). Soll sie also pro-zionistisch sein? Soll sie also das jüdische Narrativ sympathisch finden, (das sie, ebenso wie Said, unmissverständlich als legitim anerkennt), während jüdische Gesprächspartner das ihre ablehnen? Oder sich nicht einmal die Mühe machen, ihr zuzuhören? Oder behaupten, sie habe kein Recht, zu sprechen, während ihre größere Familie weiter unter einer brutalen Besatzung lebt? Sollte sie sein, was die Israelis einen „guten Araber“ nennen? Ist das unser Maßstab für ihr Recht, über solche Themen zu sprechen? Sie sagt, sie bevorzuge eine liberale Demokratie in Israel, einen Staat für all seine Bürger. Ist das antisemitisch? Ich kenne viele Juden, die hier zustimmen, auch Israelis, und auch ich selbst habe Verständnis für diese Haltung. Wäre das das Ende des jüdischen Staates? Ich glaube nicht. Wenn Israel morgen alle Palästinenser einbürgern würde, sogar wenn die Bevölkerung zu 55% palästinensische und zu 45% jüdische Israelis wären, es wäre in voraussehbarer Zukunft immer noch ein jüdischer Staat in der Praxis. (Moshe Ahrens bringt dieses Argument schon seit Jahren.)
Jedenfalls war Sarsour Vorkämpfer in vielen progressiven Themen, sie hat Diskriminierung mehr als die meisten von uns bekämpft, war bei der Verteidigung vieler verschiedener Gemeinden viele Male verhaftet und wurde als ernsthafter Aktivist anerkannt. Sie unterstützte und arbeitete mit jüdischen Aktivisten wie Jill Jacobs von T’ruah; sie sammelte 162,000.- Dollar von muslimischen Amerikanern um den zerstörten jüdischen Friedhof in St.Louis zu wieder aufzubauen, sie gab, was dort übrig blieb, zur Restaurierung eines jüdischen Friedhofs in Colorado. Sie ist auch gegen die gegenwärtige Deutung Israels. Ich glaube nicht, dass amerikanische Juden wissen, was sie damit anfangen sollen. Sie ist also sehr viel komplizierter als Said. Sie meint, sie finde es in Ordnung, wenn Leute sie kritisieren, aber nicht, wenn sie sie kriminalisieren und ihr das Recht auf eine Haltung (BDS) absprechen, die sie von ihrem Standpunkt aus für legitim und vernünftig hält. Ist damit alles in Ordnung? Nein. Antisemitismus ist nicht in Ordnung, genau deshalb hat das Forum in Frage gestellt, wie manche Antisemitismus als Kontrollinstrument nützen, um andere davon abzuhalten, zu sprechen, auch wenn, was sie sagen, nicht antisemitisch ist.
Ja, Sarsour findet „Zionismus gruselig“. Ich kann anderer Meinung sein, aber meiner Ansicht nach ist das kein Antisemitismus.
Es gibt da aber noch etwas. Wenn Sarsour es ernst meint mit ihrer Forderung, gegen Israel nur als „Apartheid-Staat“ zu protestieren, nicht aber gegen die Existenz Israels in welcher Form auch immer, oder gegen Juden überhaupt, muss sie Klarheit schaffen über positive Bemerkungen über Leute wie Louis Farrakhan, Eine Gestalt wie Louis Farrakhan zu normalisieren, der Juden „Blutsauger“ nannte, und behauptet, zeitgenössische Juden wären „nicht wirklich Juden, sondern tatsächlich Satan“, ist nicht Teil der Arbeit einer „Bewegung“ für, ihrer Definition nach, den Kampf für Gerechtigkeit, Gleichheit und Anstand in unserer Gesellschaft. Um wirklich vom erfolgreichen progressiven Aktivisten zum nationalen Vorkämpfer für progressive Themen zu werden, und sicherlich, um Unterstützung von progressiven Juden wie mir zu gewinnen, denke ich, Sarsour sollte öffentlich ihre wenn auch stillschweigende Unterstützung von Leuten wie Farrakhan klären, die unser Land nicht gerechter machen und auch nicht sicherer für uns und unsere Familien. Sie gesteht offen zu, dass es Antisemitismus in der Linken gibt, und deshalb hoffe ich, dass sie genauso hart dagegen kämpft, wie sie gegen Antisemitismus und Islamophobie anderswo in unserer Gesellschaft gekämpft hat. Von Sarsour die Klärung ihrer Standpunkte zu Farrakhan zu fordern ist meiner Ansicht nach nicht übertrieben oder unrealistisch; es würde ihre Position in der „Bewegung“, in der sie solch eine prominente Rolle spielt, stärken.
Viertens: Lina Morales, eine queer latino-aschkenasische Jüdin aus dem Süden Chicagos (sie unterrichtet Jiddisch), machte einige interessante Aussagen über ihre jüdische Identität und ihren Anti-Zionismus. „Ich wurde zur Antizionistin gleich nach meiner Birthright-Reise, auf der ich gesehen habe, dass Palästinenser in Israel nicht besser behandelt werden, eher schlechter, als Schwarze im Süden von Chicago. Da habe ich gemerkt, dass ich das nicht unterstützen kann.“ Sie behauptete „Ich bin Anti-Zionistin wegen der Bindung zu meiner jüdischen Identität. Ich glaube, der Zionismus war ein schrecklicher Fehler.“ Man kann sicherlich anderer Meinung sein. Aber ist das antisemitisch? Es ist etwas, das wir mehr und mehr von Juden ihrer Generation hören, von denen manche sich mit Gruppen wie IfNotNow identifizieren; diese Gruppe hat auch viele Mitglieder, die sich als Zionisten sehen. Das muss ernst genommen werden und nicht abgewertet als undenkbar. Auch ihr und Leuten wie ihr, steht ein Platz zu, am gemeinsamen jüdischen Tisch.
Fünftens: Rebecca Vilkomerson präsentierte eine stichhaltige und leidenschaftliche Argumentation für JVP. Sie stellte dar, warum JVP als ein scharfer Kritiker Israels, sogar als Organisation, die BDS unterstützt, nicht „antisemitisch“ ist; und ihre Bemerkungen handelten, im Gegensatz zu denen der anderen, hauptsächlich von Israel. Man kann JVP zustimmen oder nicht, ich finde, sie lieferte gute Argumente, mit denen sie vieles der mitte-links-Kritik gegen JVP, diese Organisation habe keinen Platz am Tisch, auseinander nahm. Denjenigen, die JVP nur aus der Kritik gegen sie kennen, empfehle ich, sich ihre Ausführungen anzuhören. Ich sehe die Hysterie in der jüdischen Mitte über JVP als einigermaßen rätselhaft. JVP ist zu einer Art jüdischer Version von Sarsour geworden, hauptsächlich wegen der Unterstützung von BDS, obwohl viele der Kritiker BDS in anderen Fällen unterstützt haben, etwa im Falle Apartheid-Süd-Afrikas. Ich will hier die beiden nicht gleichsetzen, aber anmerken, dass BDS eine Taktik des gewaltlosen Protests ist. Man muss seine Anwendung in diesem Fall nicht gut heißen, aber ihn und die Unterstützer gewaltlosen Protests zu kriminalisieren, indem man sie „antisemitisch“ per definitionem nennt, ist meiner Ansicht nach einer der Gründe, warum diese Podiumsdiskussion notwendig war.
Zuletzt, um den Kritikern zu antworten, die meinen, „Es war nur eine Veranstaltung von Linken für Linke“. Eigentlich stimmt es ja. Na und? In wie vielen akademischen Foren habe ich gesessen, wo Akademiker zu Akademikern sprechen, alle im selben Kanon, mit der selben Trickkiste, den selben Kniffen und klugen Schachzügen. Oder an wie vielen Foren über Antisemitismus (sogar ganzen Konferenzen) habe ich teilgenommen, in denen auf dem Podium nur pro-Israel Advokaten saßen, die den gegebenen Anti-Israelismus als Antisemitismus anprangerten. Ich lehre an einer Universität mit einem ganzen Institut für Studien über Antisemitismus, das schon zu zahlreichen Konferenzen zum Thema eingeladen hat. Ich habe zu Holocaust und Antisemitismus publiziert und bin noch zu keiner dieser Konferenzen in meiner Universität eingeladen worden. Warum? Ich denke, der Grund ist offensichtlich. Die Einladenden wissen, dass ich nicht sagen werde, was sie gesagt haben wollen. Sie haben recht. Mir soll es recht sein, ich besuche die Veranstaltungen sowieso. Das nur um zu sagen: Es ist nichts Neues.
Die Forderung nach Gleichgewicht unter allen Umständen ist ein viel gebrauchter Kniff derer, die der Linken kritisch gegenüberstehen. Ich habe einmal Peter Beinhart eingeladen, in meiner Synagoge zu sprechen. Ein verärgertes Gemeindemitglied kam später zu mir und beschwerte sich: „Jetzt müssen Sie jemanden von der anderen Seite einladen.“ „Warum“, fragte ich, „Vor ein paar Jahren haben wir die jüdische Feministin Letty Pogrebin eingeladen. Muss ich jetzt einen Anti-Feministen einladen? Wenn ich jetzt Alan Dershowitz einlüde, kämen Sie dann zu mir um zu verlangen, ich solle nächstes Jahr Peter Beinhart einladen?“ Die Podiumsdiskussion in der New School war eine Veranstaltung mit progressiven Diskussionsteilnehmern, die alle in Themen wie Ungleichheit, Ungerechtigkeit, und Bigotterie aktiv sind. Antisemitismus ist ein Teil davon. Sie haben jedes Recht, darüber zu sprechen. Zu behaupten, es wäre anders, ist einfach ein Aufrechterhalten dessen, was in unserer Gesellschaft nicht stimmt, wie es in Gayatri Chakravorty Spivaks „Can the Subaltern Speak?“ so wunderbar ausgedrückt wird. Zusammenfassend kann man, und sollte man, kritisch sein angesichts des Gesagten, oder des Ungesagten. Ich jedenfalls habe auf dieser Veranstaltung sehr viel gelernt, über Aktivismus versus Intellektualismus, über die amerikanisch-jüdischen Befürchtungen im Bezug auf wer sprechen darf und wer nicht, über die Art und Weise, wie Liberalismus sich schwer tut, außerhalb seiner selbst zu denken, besonders im Hinblick auf progressiven Radikalismus, und darüber, wie leicht es ist für uns Baby-Boomers, nur einen Schritt davon entfernt zu sein, im Bademantel auf der Veranda zu stehen und mit dem Besen in der Hand die Nachbarskinder anzubrüllen, sie sollten sich vom Rasen scheren.
Shaul Magid, jüdischer Herausgeber des Magazins Tikkun - Thought and Culture, ist Jay-und Jeany-Schottenstein-Ptofessor für Jüdische Studien in der Indiana University/ Bloomington, Mitglied von Koog Research am Shalom Hartman Institute of North America, und Rabbiner der Fire Island Synagoge. Gegenwärtig ist er Senior Research Fellow am Center for Jewish History in Manhattan. Sein jüngstes Buch: Hassidim Incarnate: Hasidism, Christianity, and the Making of Modern Judaism, bei Stanford University Press, 2015.
Übersetzung: Gudrun Weichenhan-Mer